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Liebesromane an einem Ort

Kapitel 3Unheilvolle Begegnung


Lea Weigand

Der Regen fiel in dünnen, unaufhörlichen Schleiern, als Lea vorsichtig aus ihrem Wagen stieg. Die Luft am Hafen war schwer, eine Mischung aus Diesel, Salz und Moder, die ihre Sinne bedrängte. Sie zog die Kapuze ihres Mantels enger um ihr Gesicht und ließ ihren Blick über das Gelände schweifen. Dunkle Silhouetten von Kränen ragten wie riesige, bedrohliche Skelette gegen den wolkenverhangenen Himmel auf, während sich der Nebel dicht zwischen den Containern sammelte und die Sicht verschleierte. Ein entferntes Nebelhorn ertönte, sein heiserer Klang zerriss die bedrückende Stille.

Lea wusste, dass sie sich auf gefährlichem Terrain befand. Es war eine riskante Entscheidung, allein hierherzukommen, ohne Rückendeckung und ohne sichere Informationen. Doch Hartmanns abweisende Haltung und die Entschlüsselung der kyrillischen Notiz hatten sie überzeugt, dass sie die Sache selbst in die Hand nehmen musste. Die Notiz hatte von einem „Treffpunkt“ und „Containern“ gesprochen – der Hafen war eine Spur, die sie nicht ignorieren konnte, auch wenn ihre rationale Seite sie vor den Gefahren warnte. Sie hatte abgewogen und beschlossen, dass dieses Risiko notwendig war.

Sie hielt sich von den beleuchteten Bereichen fern und bewegte sich leise durch die Schatten. Der Regen prasselte sanft auf die rostigen Metalldächer der Containerhallen, während das quietschende Schwingen eines losen Metallteils in der Ferne ein unheimliches Echo erzeugte. Vom Hauptweg drang das gedämpfte Murmeln von Stimmen zu ihr herüber, vermischt mit dem gelegentlichen Klirren von Metall. Die Szenerie wirkte wie eine Bühne für etwas unaussprechlich Dunkles, und ihr Herzschlag beschleunigte sich.

Lea schlich weiter, verborgen zwischen den Containern, bis sie eine Gruppe von Männern ausmachen konnte. Sie waren in dunkle Kleidung gehüllt, ihre Bewegungen zielgerichtet und routiniert. Einer von ihnen, ein breitschultriger Mann mit einer Zigarette im Mundwinkel, sprach in scharfem, schnellem Russisch. Obwohl Lea die Worte nicht verstand, erkannte sie den autoritären Tonfall – das waren Befehle. Ihre Augen wanderten zu den Kisten, die sie aus einem offenen Container zogen. Darauf prangte ein auffälliges Logo in Rot und Schwarz, das einem Greif ähnelte. Es war ihr nicht unbekannt; in einem alten Bericht über Schmuggelnetzwerke hatte sie dieses Symbol bereits gesehen. Ihre Kehle wurde trocken. Das hier war eindeutig größer und gefährlicher, als sie erwartet hatte.

Ihre Finger krampften sich um das Notizbuch in ihrer Manteltasche, während sie zu analysieren versuchte, was sie sah. Sie wollte näher heran, doch die Vorstellung, entdeckt zu werden, ließ ihren Puls rasen. Ihre Angst kroch langsam an die Oberfläche, das lähmende Gefühl, das sie so gut kannte. Sie zwang sich, tief durchzuatmen, zwang ihre Gedanken, sich zu sammeln. Doch als sie einen Schritt zurückwich, knackte ein Zweig unter ihrem Fuß – ein ohrenbetäubend lautes Geräusch in der Stille.

Die Köpfe der Männer ruckten herum, ihre Taschenlampen durchbohrten den dichten Nebel. „Da drüben!“ rief einer von ihnen, und das Geräusch schwerer Schritte kam näher. Lea duckte sich reflexartig hinter einen Container, ihr Atem ging stoßweise, während das Adrenalin durch ihre Adern jagte. Sie war unbewaffnet, ohne Verstärkung – allein.

Bevor sie sich bewegen konnte, spürte sie plötzlich eine Hand auf ihrer Schulter. Stark, entschlossen. Ein Schatten war hinter ihr aufgetaucht, lautlos wie ein Raubtier. Sie wollte schreien, doch die Hand schloss sich über ihren Mund, und eine tiefe Stimme flüsterte nahe an ihrem Ohr: „Keinen Mucks.“

Sie erstarrte, ihr Körper wie eingefroren. Der Mann zog sie in die Dunkelheit, weg von den sich nähernden Schritten. Ihre Gedanken rasten, während sie sich seinem Griff nicht entziehen konnte. Wer war er? Einer von ihnen? Ein Retter? Der Griff blieb fest, aber nicht schmerzhaft, und nach wenigen angespannten Sekunden zog er sie hinter einen weiteren Container.

„Bleib still,“ flüsterte er. Seine Stimme war ruhig, fast emotionslos, doch etwas an seiner kontrollierten Art ließ ihren Herzschlag noch schneller werden. Die Taschenlampen der Männer schwenkten über die Container und den Boden, verfehlten sie jedoch knapp. Der Fremde hielt sie, bis die Schritte sich entfernten. Dann ließ er sie los.

Lea wich einen Schritt zurück, keuchend vor Anspannung. Ihre Augen suchten sein Gesicht, das nun deutlicher sichtbar wurde. Dunkle, fast schwarze Augen trafen ihre, und für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. Ein seltsames, flüchtiges Gefühl von Vertrautheit überkam sie, ein Déjà-vu, das sie nicht einordnen konnte.

„Wer sind Sie?“ fragte sie schließlich, ihre Stimme zitterte leicht, mehr aus Wut über ihre Hilflosigkeit als aus Angst.

„Jemand, der Sie gerade gerettet hat,“ erwiderte der Mann trocken. Sein Gesicht blieb im Halbdunkel, doch seine Haltung verriet Selbstsicherheit und Kontrolle. „Was auch immer Sie hier suchen, Sie werden es nicht überleben, wenn Sie so weitermachen.“

„Das geht Sie nichts an,“ entgegnete sie, schärfer, als sie es beabsichtigte.

Ein Hauch von Amüsement blitzte in seinen Augen auf, doch seine Stimme blieb kalt. „Vielleicht nicht. Aber wenn Sie klug sind, verschwinden Sie. Sonst sehen Sie etwas, das Sie verfolgen wird.“ Er trat einen Schritt zurück, sein Blick ruhte für einen Moment länger auf ihr, als würde er etwas abwägen. Dann verschwand er rasch in den Schatten.

Lea blieb wie angewurzelt stehen, ihr Körper zitterte unter der aufgestauten Spannung. Sie wollte ihm folgen, ihn zur Rede stellen, doch sie wusste, dass sie sich bereits zu nah an der Gefahr befand. Sein Auftauchen hatte sie gerettet, aber warum? Und wer war er wirklich?

Zurück in ihrem Auto fühlte sie, wie ihre Hände am Lenkrad zitterten. Der Regen hämmerte auf die Windschutzscheibe, doch ihre Gedanken waren bei ihm, dem Fremden, und den Männern am Hafen. Wer war er, und weshalb fühlte sie, dass er mehr wusste, als er zugab?

In ihrer Wohnung angekommen, ließ sie sich auf das Sofa fallen. Der Geruch von abgestandenem Tee hing in der Luft. Sie hätte sich in dieser vertrauten Umgebung sicher fühlen sollen, doch stattdessen schien die Dunkelheit der Nacht in den Ecken des Raumes zu lauern. Der Regen klopfte leise gegen die Fensterscheiben, ein monotones Geräusch, das ihre Gedanken nicht beruhigen konnte.

Sie schloss die Augen, doch die Bilder des Abends ließen sie nicht los. Der Hafen, die Männer, das auffällige Logo. Und dann dieses Gesicht: dunkle Augen, die sie durchdringend ansahen. Etwas daran kam ihr vertraut vor, ein Schatten am Rand ihres Bewusstseins. Sie biss sich auf die Unterlippe. War es möglich, dass sie ihn kannte? Eine Erinnerung kämpfte sich an die Oberfläche, zu unklar, um sie zu greifen, doch bedeutungsvoll genug, um sie nicht loszulassen.

Ihr Atem wurde flach, und ihre Brust fühlte sich eng an. Die Wände schienen näher zu rücken, und sie spürte, wie ihre Angst sie überrollte. Sie griff nach ihrem Handy, wählte halbautomatisch die Nummer ihres Therapeuten, hielt dann jedoch inne. Was sollte sie sagen? Sie konnte nicht einmal erklären, warum diese Begegnung sie so aus der Fassung brachte.

Stattdessen legte sie das Telefon weg und zog die Knie an ihre Brust. Der Kopf gegen die Polster des Sofas gelehnt, zwang sie sich, ruhig zu atmen. Sie musste Klarheit finden, musste verstehen, was diese Erinnerung bedeutete und warum sie ausgerechnet jetzt aufbrach.

Die Nacht verging langsam, und als die ersten Lichtstrahlen des Morgens durch das Fenster drangen, fühlte sie sich, als hätte sie nicht einmal einen Moment der Ruhe gefunden. Doch eines wusste sie sicher: Der Fremde am Hafen war kein Zufall. Und das, was sie in dieser Nacht gespürt hatte, war noch lange nicht vorbei.