Kapitel 2 — Schatten der Vergangenheit
Kira
Die Altbauwohnung empfing Kira mit ihrer gewohnten Stille, durchbrochen nur vom Knarren der Holzdielen unter ihren Stiefeln. Der schwere Geruch von längst erkaltetem Kaffee hing noch immer in der Luft, ein stummer Zeuge ihrer schlaflosen Nächte. Sie ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen und zog ihre Jacke aus, die sich vom Regen auf der Straße feucht und klamm anfühlte. Das Kuvert, das sie von Sam erhalten hatte, lag sicher in der Innentasche. Seine Präsenz war wie ein ungebetener Gast – schwer, unerwünscht und nicht zu ignorieren.
Mit einem tiefen Atemzug warf Kira die Jacke über den einzigen Stuhl an ihrem kleinen Küchentisch und zündete die Lampe mit dem rissigen Schirm an. Das schwache Licht tauchte den Raum in einen gelblichen Schimmer, der die kargen Wände und den abgenutzten Holzboden noch trostloser wirken ließ. Es war kaum mehr als ein Versteck, dieser Ort. Kein Zuhause. Nur ein Zwischenstopp, bevor es weiterging – wohin auch immer.
Sie zögerte kurz, als sie sich an den Tisch setzte. Ihre Finger glitten über das Kuvert in ihrer Hand, bevor sie es aufriss. Der Inhalt fiel heraus: ein Foto, einige dicht beschriebene Seiten und ein kleiner USB-Stick. Sie griff zuerst nach dem Foto.
Es zeigte Danila Morozov, aufgenommen in einem Moment, der wie zufällig wirkte: Er stand vor einem schwarzen SUV, inmitten eines Gesprächs, die Hände in den Taschen seines maßgeschneiderten Mantels. Sein Gesichtsausdruck war unbarmherzig ruhig, mit einem Hauch von Überlegenheit in seiner Haltung. Kira ließ ihren Blick über das Bild gleiten, suchte die Details – die scharfen Kanten seiner Gesichtszüge, das Tattoo, das gerade noch unter dem hochgekrempelten Ärmel seines Hemdes hervorlugte. Ein Mann, der wusste, wie man Macht ausstrahlte.
Sie hielt inne, das Foto länger betrachtend, als sie beabsichtigt hatte. Etwas an seinem Gesicht, an der Art, wie er sich hielt, ließ sie nicht los. Seine Ausdruckslosigkeit wirkte nicht leer, sondern wie ein Schleier, der etwas Tieferes verbarg – etwas, das sie nicht greifen konnte. Ein Gedanke keimte in ihr auf, eine leise Warnung: Was immer dieser Mann sei, er würde keine leichte Beute sein.
„Ein Ziel wie jedes andere“, murmelte sie leise, fast so, als wolle sie sich selbst überzeugen. Doch die Worte klangen hohl.
Kira legte das Foto beiseite und griff nach einem der Zettel. Es war ein Zeitplan, handschriftlich verfasst, mit Ortsangaben und Zeitfenstern. Treffpunkte, Verhandlungen, ein Bankett in zwei Tagen – eine Gelegenheit, ihn zu erwischen? Vielleicht. Doch als ihre Augen über die Zeilen glitten, wurde ihre Aufmerksamkeit von einem anderen Namen eingefangen.
Artur Sazonov.
Der Name war wie ein Zündfunke. Er löste etwas in ihr aus, einen Widerhall von Erinnerungen, die sie längst begraben wollte. Sie lehnte sich im Stuhl zurück, die Augen geschlossen, während die Bilder aus ihrer Vergangenheit unvermittelt an die Oberfläche drängten.
Es war Jahre her, doch der Moment fühlte sich an wie gestern. Der letzte Einsatz. Der Regen prasselte damals ähnlich wie heute. Ihre Einheit hatte sich durch die engen Gassen einer ukrainischen Kleinstadt bewegt, die Dunkelheit nur durch das Flackern von Taschenlampen durchbrochen. Der Auftrag war klar gewesen: eine Gruppe von Aufständischen ausschalten, die sich in einem verlassenen Schulgebäude verschanzt hatte. Doch die Informationen waren falsch gewesen – oder absichtlich manipuliert.
Sie erinnerte sich an die Anspannung, die in der Luft gelegen hatte, an das metallische Klicken ihrer Waffe in der kühlen Nacht. Als sie die Tür eingetreten hatten, war die Welt für einen Moment still gewesen. Stille – und dann Schreie.
Ihre Augen öffneten sich weit, während die Erinnerung sie überwältigte. Zivilisten. Kinder. Ihre Gesichter waren eine verschwommene Masse aus Angst und Verzweiflung, bis auf eines. Ein Mädchen mit einem geflochtenen Zopf. Ihre Augen – weit geöffnet, starr – schienen sich in Kiras Seele zu bohren.
Der Boden hatte unter der Explosion gebebt. Der Geruch von Rauch und Blut, das gellende Kreischen, das nie aufgehört hatte. Sam war damals dabei gewesen, hatte die Operation koordiniert. Es war sein Fehler gewesen. Oder ihrer? Hätte sie schneller reagieren können? Anders entscheiden?
Kiras Brust zog sich zusammen, als sie sich zwang, die Bilder zurück in die Dunkelheit zu stoßen, wo sie hingehörten. Doch die Schuld blieb, wie ein Schatten, der nie verblasste.
Sie riss die Augen auf, atmete tief durch und konzentrierte sich wieder auf die Gegenwart. Der USB-Stick lag vor ihr auf dem Tisch. Sie griff nach ihrem Laptop, einem alten, abgenutzten Modell, das sie aus Sicherheitsgründen offline hielt. Das Gerät erwachte mit einem Ruck zum Leben, das blaue Licht des Bildschirms flackerte in der dunklen Wohnung.
Kira steckte den USB-Stick ein und wartete, während sich die Dateien öffneten. Pläne, Fotos, Berichte – eine umfassende Sammlung von Informationen über Danila Morozov. Es war mehr als genug, um ihn aufzuspüren, ihn zu töten. Doch etwas an der Fülle der Informationen machte sie stutzig. Alles wirkte zu glatt, zu perfekt zusammengestellt.
Ihre Augen verengten sich, während sie sich durch die Dateien klickte. Sie überprüfte die Metadaten, suchte nach Unstimmigkeiten. Es war ein Reflex, ein Automatismus, der sie vor Fallen bewahrt hatte. Und tatsächlich – einige der Dokumente wirkten manipuliert, als hätte jemand versucht, bestimmte Details zu überdecken.
Die Dateien enthielten auch Informationen über Artur Sazonov, seine Verbindungen, seine Machtstrukturen. Seine Absichten wurden nicht direkt erwähnt, doch zwischen den Zeilen konnte sie lesen, was unausgesprochen blieb: Artur wollte Danila loswerden, weil er ihn als Bedrohung sah.
Sie schob den Laptop beiseite und griff nach ihrer Tasche. Dort, versteckt unter einer losen Bodenplanke, lag alles, was sie für den Auftrag brauchte – Waffen, falsche Pässe, Bargeld. Sie hob die Planke an und zog die kleine Metallbox hervor, öffnete sie und überprüfte den Inhalt. Alles war an seinem Platz. Doch etwas ließ sie zögern.
Ihre Hand schwebte über dem Inhalt der Box, dann zog sie sich zurück. Sie war gut in ihrem Job – vielleicht zu gut. Doch es waren die Fragen, die sie sich immer häufiger stellte, die sie beunruhigten. Warum tat sie das? War es wirklich nur das Geld, nur der Wunsch nach Kontrolle? Oder war es etwas Tieferes, Dunkleres, das sie immer wieder in diese Welt zog?
Sie schloss die Box und ließ die Planke zurückgleiten. Dann setzte sie sich wieder an den Tisch, das Foto von Danila in der Hand. Sein Gesicht schien sie zu mustern, als wüsste er mehr über sie, als die Datei verriet.
„Was bist du wirklich?“ flüsterte sie leise, fast wie eine Frage an sich selbst.
Die Nacht zog sich hin, während Kira weiter durch die Informationen wühlte und ihre Gedanken sortierte. Draußen rauschte der Regen, und der graue Hinterhof war nur schemenhaft durch das beschlagene Fenster zu erkennen.
Am Ende war der Plan klar: Sie würde ihn treffen. Das Bankett war der perfekte Ort, um sich Zugang zu seinem Kreis zu verschaffen. Doch die Unruhe in ihr blieb. Es war nicht nur der Auftrag, der sie belastete. Es war die Ahnung, dass dieser Weg sie an einen Punkt führen würde, an dem sie sich selbst nicht mehr entkommen konnte.
Als die erste Morgendämmerung durch den grauen Himmel drang, lehnte sich Kira zurück. Der Laptop war geschlossen, das Foto von Danila wieder im Kuvert verstaut. Die Entscheidung war getroffen, zumindest für den Moment. Doch ein Teil von ihr wusste, dass dies mehr war als nur ein weiterer Auftrag. Es war der Anfang von etwas, das sie noch nicht begreifen konnte.
Sie griff nach ihrer Jacke, zog sie über und verließ die Wohnung, das Kuvert immer noch in ihrer Tasche. Der Regen hatte nachgelassen, und die Stadt lag still unter dem drohenden Grau des Himmels. Die Klingen ihrer Augen waren wieder geschärft, ihre Schritte fest und entschlossen.
Was auch immer vor ihr lag, sie würde es herausfinden. Schritt für Schritt.