reader.chapter — Ein unruhiger Morgen
Sophia Bergmann
Das rhythmische Trommeln ihrer Laufschuhe auf dem gepflasterten Weg durch den Englischen Garten hätte beruhigend wirken sollen. Normalerweise war dies Sophias Zuflucht – eine Stunde, nur für sie, um ihren Kopf zu klären und die Gedanken zu sortieren. Doch an diesem Morgen war es anders. Der kühle Herbstwind zerzauste ihr honigblondes Haar, das sich aus dem lockeren Dutt gelöst hatte, und brachte ihr die Kälte in die Lungen. Dennoch spürte sie keine Befreiung, nur die Last dessen, was am Vorabend passiert war.
Ihre Schritte verlangsamten sich, als eine Gruppe Enten laut schnatternd vom Ufer des Eisbachs aufschreckte. Sie hielt kurz inne und ließ ihren Blick über das wild sprudelnde Wasser gleiten, das in der kühlen Morgenluft dampfte. Hier, auf der kleinen Holzbrücke, schien die Welt für einen Moment stillzustehen. Und doch war es keine Ruhe, die sie empfand, sondern ein dumpfes Unbehagen, das sich wie eine unsichtbare Hand um ihre Brust legte.
Die schemenhafte Gestalt aus der Villa tauchte erneut in ihren Gedanken auf, so lebhaft, dass sie fast das Gefühl hatte, die dunklen Augen des Mannes hinter sich zu spüren. Sie schloss die Augen und atmete tief ein, zog die feuchte Luft des Herbstmorgens in ihre Lungen. „Es war nur eine Einbildung“, murmelte sie leise zu sich selbst, als wollte sie die Worte glaubwürdiger machen. Doch selbst als sie sich zwang, ihre Laufrunde fortzusetzen, wuchs das Gefühl, verfolgt zu werden, mit jedem Schritt.
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Wenig später saß Sophia in ihrem Lieblingscafé, der „Alten Pinakothek“, und rührte zerstreut in ihrem Cappuccino. Der Duft von frisch gebackenem Gebäck und gemahlenem Kaffee lag in der Luft, doch sie nahm davon kaum etwas wahr. Der Tisch vor ihr war wie immer mit der Zeitung und einem kleinen Teller mit einem Croissant gedeckt, doch ihr Appetit war verschwunden. Die warmen Holztöne des Cafés, sonst ein beruhigender Rückzugsort, wirkten an diesem Morgen wie eine Bühne, auf der sie sich fehl am Platz fühlte.
Sie hatte gehofft, dass der vertraute Ort sie auf andere Gedanken bringen würde. Doch stattdessen fühlte sie sich, als wäre der Schatten des Vorabends mit ihr gekommen, unsichtbar, aber allgegenwärtig. Ihre Finger spielten unruhig mit dem Löffel, klirrten leise gegen die Tasse.
„Sophia?“ Eine helle Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Anna, ihre langjährige Freundin, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich mit einem aufmerksamen Blick zu ihr. „Du siehst aus, als hätte dich jemand überfahren. Alles okay?“
Sophia zwang sich zu einem Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte. „Ach, nichts. Ich hatte nur einen langen Abend.“ Ihre Antwort klang flach, unüberzeugend, und sie wusste, dass Anna sie nicht so leicht abwinken lassen würde.
„Einen langen Abend?“ Anna hob skeptisch eine Augenbraue und stellte ihre Tasche neben den Stuhl. „Nicht dein typisches ‚Ich war bis Mitternacht effizient und habe mich dann pünktlich hingelegt‘-lang, oder?“ Ein Anflug von Humor schwang in ihrer Stimme mit, doch das Funkeln in ihren Augen wich schnell der Besorgnis. „Du wirkst irgendwie... abwesend heute.“
Sophia wich ihrem Blick aus und nippte an ihrem Cappuccino. Die Worte, die sie gebraucht hätte, um die Wahrheit zu erzählen, schienen sich in ihrem Hals zu verknoten. Wie konnte sie Anna erklären, dass sie sich beobachtet fühlte, dass die Begegnung in der Villa und die Gestalt im Garten sie nicht losließen? Sie wollte ihre Freundin nicht beunruhigen. Und noch viel mehr wollte sie vermeiden, selbst schwach oder hilflos zu wirken.
„Es ist nichts, wirklich“, sagte sie schließlich und zwang sich, leicht zu klingen. „Nur ein flüchtiger Gedanke.“
„Mhm.“ Anna musterte sie, sichtlich nicht überzeugt, doch sie ließ das Thema vorerst fallen. Stattdessen bestellte sie sich ein Frühstück, und ihre lockere Art schuf für einen Moment eine Illusion von Normalität.
Doch Sophias Gedanken wanderten unaufhörlich zurück. Sie starrte aus dem Fenster, zu den belebten Straßen des Viertels, wo Menschen in Mänteln und Schals die frische Morgenluft genossen. Dann, plötzlich, blieb ihr Blick an einem Mann hängen.
Er lehnte an einem Laternenpfahl auf der anderen Straßenseite, scheinbar entspannt. Doch die Art, wie er stand, wie sein dunkler Mantel im Wind flatterte, ließ einen kalten Schauer über ihren Rücken laufen. Es war nur ein Moment, in dem sich ihre Augen trafen – seine stahlblauen, durchdringenden Augen – doch es genügte, um ihre Hände unmerklich vor Anspannung zittern zu lassen.
„Sophia?“ Annas Stimme riss sie aus ihrer Erstarrung. Sie blinzelte, wandte sich wieder ihrer Freundin zu, doch ihr Herz hämmerte in ihrer Brust. Als sie zurückblickte, war der Mann verschwunden.
„Ich... dachte, ich hätte jemanden gesehen.“ Sie redete schnell, fast abwehrend, bevor Anna etwas sagen konnte.
„Jemanden aus der Arbeit?“ Annas Stirn legte sich in Falten.
„Nicht direkt.“ Sophia schüttelte den Kopf und zwang ein Lächeln auf ihre Lippen. Sie wollte Anna nicht hineinziehen – oder war vielleicht nicht bereit, sich selbst einzugestehen, dass etwas nicht stimmte.
Anna sah sie noch einen Moment lang prüfend an. „Na gut. Aber wenn du reden willst, du weißt, wo du mich findest.“
Sophia nickte dankbar, doch tief in ihrem Inneren wusste sie, dass es Worte gab, die sie nicht einmal mit Anna teilen konnte.
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Nach dem Frühstück verabschiedete sich Anna mit einer herzlichen Umarmung und einem letzten besorgten Blick. Sophia blieb noch einen Moment allein am Tisch sitzen, die Kühle des Fensters im Rücken. Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, doch die flüchtige Begegnung mit dem Mann draußen hatte alles durcheinandergebracht. Die Erinnerung an seinen Blick verfolgte sie, wie ein dunkler Schatten, der sie nicht losließ.
Schließlich zahlte sie und machte sich auf den Weg zurück zu ihrer Wohnung. Die Straßen waren ruhiger geworden, doch das Gefühl der Bedrohung ließ sie nicht los. Mit jedem Schritt spürte sie mehr und mehr, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten. Sie konnte es nicht erklären, doch es war, als würde jemand sie beobachten. Als würde jemand ihren Namen flüstern, lautlos, nur für sie hörbar.
Sophia beschleunigte ihre Schritte, wagte es nicht, sich umzusehen. Doch schließlich hielt sie inne, drehte sich langsam um. Die Straße hinter ihr war leer, nur die Bäume raschelten leise im Wind. Kein Schatten, keine Bewegung. Und trotzdem war da dieses Gefühl – dieses unheilvolle, alles durchdringende Gefühl.
„Reiß dich zusammen“, flüsterte sie scharf zu sich selbst, während sie zitternd ihre Hand in die Tasche griff. Ihre Finger schlossen sich fest um das kleine Pfefferspray, das sie immer bei sich trug. Es war keine logische Reaktion, doch es gab ihr zumindest einen Hauch von Kontrolle zurück.
Als sie endlich ihre Wohnung erreichte, schloss sie die Tür hinter sich und lehnte sich schwer dagegen. Die Stille, die sie sonst willkommen hieß, fühlte sich heute wie ein Vorbote an. Sie ließ ihre Tasche auf den Boden fallen und ging direkt zum Fenster. Alles schien ruhig. Die friedliche Straße, die sie so oft überblickt hatte, wirkte jetzt wie eine trügerische Fassade.
Ihr Blick fiel auf das Rollo. Mit einer schnellen Bewegung ließ sie es herunter und zog sich in die Küche zurück. Ein Glas Wasser in der Hand, starrte sie auf die unberührte Oberfläche des Esstisches, während ihr Verstand fieberhaft arbeitete. War der Mann vor dem Café derselbe wie in der Villa? Oder war es nur ihre eigene Paranoia, die sie in die Irre führte?
Die Antwort lag irgendwo zwischen den Schatten, die sie nicht greifen konnte. Und obwohl Sophia sich ihrer Umgebung bewusst war wie nie zuvor, hatte sie das unheilvolle Gefühl, dass sich das Netz langsam enger zog. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so unsicher gewesen war.
Mit einem letzten Blick in den Flur und der festen Überzeugung, dass sie heute nicht mehr nach draußen gehen würde, ließ sie sich auf das Sofa sinken. Doch tief in ihrem Inneren wusste sie, dass die Ruhe in ihrem Apartment nur eine Illusion war – und dass die Gefahr näher war, als sie es sich einzugestehen wagte.