Kapitel 2 — Kapitel 2: Die Last der Verantwortung
Thalen
Thalen rieb sich die Schläfen, der dumpfe Schmerz in seinem Kopf wurde mit jedem Moment stechender. Ein schwacher Frost zog über den Schreibtisch unter seinen Fingerspitzen, ein unbewusster Ausbruch seiner schwindenden Magie, ausgelöst durch den wachsenden Stress. Die Neuigkeiten waren düster und wurden von Tag zu Tag ernster. Die Getreidevorräte schrumpften auf ein gefährlich niedriges Niveau, sodass eine Hungersnot ganz Thalvarin drohte, sollten die Scharmützel an den Grenzen nicht bald enden. Er strich sich das dunkle Haar aus der Stirn, das Gewicht seiner Verantwortung lastete schwerer auf ihm als der polierte Mahagoni-Stuhl, der unter ihm knarrte. Der Raum selbst schien den Verfall des Königreichs widerzuspiegeln – eine Kälte hielt sich hartnäckig trotz des prasselnden Feuers, und ein verblasster Wandteppich, der die früheren Könige zeigte, hing fadenscheinig an der Wand. Mernas, sein Berater, sprach unermüdlich weiter.
„Die Nächte werden länger, Thalen. Du musst die Veränderung doch auch spüren“, sagte Mernas mit einer leisen Dringlichkeit in der Stimme, sein makelloses cremefarbenes Gewand so tadellos wie seine Argumentation.
Thalen biss die Zähne zusammen, eine Erinnerung an die Kämpfe seiner Eltern blitzte in seinem Kopf auf – die müden Augen seines Vaters während des letzten Verblassens, die zitternden Hände seiner Mutter, als sie mit letzter Kraft schwindende Runen zeichnete. „Ich weiß“, presste er angespannt hervor. „Aber ich habe es dir bereits gesagt, Mernas, ich werde uns nicht den Schatten ausliefern. Nicht nach allem, was wir durchgemacht haben.“ Seine Stimme wurde leiser, trug das Gewicht unausgesprochener Verrätereien. „Eine Ehe mit Virelya würde Thalvarin zerstören und den Frieden, für den meine Eltern gestorben sind, zunichtemachen. Ich werde nicht zulassen, dass ihr Vermächtnis in Trümmern liegt – schon gar nicht, wenn ihr Gesandter in wenigen Tagen hier sein wird, um die Angelegenheit voranzutreiben.“
Mernas seufzte, ein Hauch von Verärgerung huschte über sein wettergegerbtes Gesicht, während er eine Geste der Frustration kaum unterdrückte. „Und die Gerüchte aus den äußeren Gebieten? Anzeichen von Magie? Das sind doch sicher nur Amtsleute, die Geschichten erfinden, um in den von der Verblassung ausgezehrten Dörfern Hoffnung zu wecken.“
Thalens Blick verhärtete sich. „Vielleicht. Aber die Luft fühlt sich… anders an. Eislilien, einst Symbole der Stärke unserer Magie, sollen wieder blühen. Elkten grasen darauf, wie sie es zu Zeiten meines Vaters taten. Wenn da etwas Wahres dran ist, müssen wir es wissen.“ Er richtete sich auf, seine Entscheidung stand fest. „Schick einen vertrauenswürdigen Späher los, um das zu untersuchen. Und verstärke die Vorräte in den äußeren Gebieten – zusammen mit Soldaten, um den Frieden zu sichern. Weitere Unruhen können wir uns nicht leisten.“
Mernas nickte kurz, spürte die Entlassung und verbeugte sich leicht, bevor er den Raum verließ. Thalen wandte sich vom Schreibtisch ab, seine Stiefel hallten auf dem kalten Steinboden wider, als er zum Fenster seines privaten Schlafgemachs ging. Schon jetzt neigte sich die Sonne tief, ein kränkliches orangefarbenes Glühen verblasste, obwohl es kaum Nachmittag war – eine deutliche Mahnung an die unnatürlichen Nächte, die sich unter der wachsenden Macht der Schattenkönigin immer weiter ausdehnten. Seine eigene Magie schwand mit jedem kürzer werdenden Tag, ein Spiegelbild seiner schwindenden Hoffnung. Er fürchtete den Moment, in dem der Schatten Thalvarin gänzlich verschlingen würde, doch eine Verbindung mit Virelya würde nur ihren Hunger nach Krieg und ihre Gier, über alle Feenlande zu herrschen, noch weiter anstacheln. Seine Pflicht zwang ihn, sie abzulehnen, auch wenn ein flüchtiger Schmerz in seiner Brust aufstieg – eine Sehnsucht nach einem schicksalhaften Band wie dem seiner Eltern, einer Liebe, die seine Last erleichtern könnte. Er schob den Gedanken beiseite, ein Luxus, den er sich nicht leisten konnte.
Sein Blick wanderte hinunter zum Garten, ein schwaches Lächeln spielte um seine Lippen, trotz der Last auf seinen Schultern. Caelira, ihr rotes Haar peitschte im Wind, formte einen Schneeball aus den schwindenden, ergrauenden Schneewehen und warf ihn auf Jurel, ihren persönlichen Wächter. Silberne Flocken tanzten von ihrem burgunderfarbenen Umhang, als der Schnee Jurels breite Brust traf. Er tat überrascht, obwohl seine wachsamen Augen sie keine Sekunde verließen. Für einen Moment durchdrang ihr Lachen – melodisch und hell – das Glas und wärmte Thalens Herz. Doch als sie sich umdrehte, huschte ein flüchtiger Schatten über ihr Gesicht, ein stilles Echo der Schuld über das Feuer, das sie vor Jahren verursacht hatte, und den Verlust ihres schneeweißen Singvogels. Der Garten selbst trug die Narben des Verfalls – verwelkende Eislilien klammerten sich an frostgebissene Stängel, ein ergreifender Kontrast zu ihrer flüchtigen Freude.
Caeliras Geburt war ein Hoffnungsstrahl gewesen, ein Zeichen, das viele als Vorbote der Rückkehr der Magie ansahen, obwohl die Zeit das Gegenteil bewies. Ihre unvorhersehbare Kraft, stark, aber wild, war nach dem tragischen Brand aus eigenem Willen verschlossen worden. Dennoch vergötterte das Schlosspersonal sie und beteiligte sich oft an ihren Streichen – keiner berühmter als die Zeit, als sie lebende Hasen in Thalens Gemächer schmuggelte. Die Snowden-Geschwister teilten eine tiefe Loyalität, geschmiedet durch gemeinsamen Verlust und Opfer, wie den Winter, in dem sie ihre eigenen Mahlzeiten rationierten, um die hungernden Dörfer nach dem Tod ihrer Eltern zu ernähren. Necken war ihre Sprache der Liebe, doch darunter lag ein unzerbrechliches Band.
Thalens Gedanken verdunkelten sich, als er zusah, wie sie Jurel mit erhobenem Schneeball nachlief. Die Probleme an den Grenzen würden bald ihre Tore erreichen. Er musste Thalvarin sichern, die Magie wiederherstellen, bevor sie für immer im Schatten verschwand. Ein Wunder vielleicht – aber wo sollte er es finden? Seine Gedanken kehrten zu den äußeren Gebieten zurück, zu den Gerüchten über Eislilien und Elkten. Wenn dort Magie erwachte, könnte es ihre Rettung sein.
Die Geschichte seiner Eltern, eine Erzählung von Hoffnung inmitten von Kampf, kam ihm in den Sinn. Der junge König Efferon, der durch die Lande der Flussmenschen ritt, hatte Elowyns Anwesenheit gespürt, bevor er sie sah – ein Band, so unmittelbar, so wahr, dass er zu ihrem Haus eilte und vor der Bauerntochter niederkniete, um ihr ohne ein einziges Wort einen Antrag zu machen. Ihre Liebe, gesegnet von alten Thalvarin-Riten, die Magie mit Ehe verbanden, brachte drei Kinder hervor – eine Seltenheit in Zeiten des Verblassens. Thalens älterer Bruder, Phillippe, geboren ohne Magie, führte nun Soldaten an den Grenzen an, um den Frieden zu sichern, wo er konnte. Eine kürzliche Nachricht von ihm berichtete von wachsenden Spannungen, eine Erinnerung an seine Abwesenheit und die geteilte Last. Obwohl er der Älteste war, bedeutete Phillippes Mangel an Macht, dass Thalvarins magische Linie – und damit die wahre Herrschaft – auf Thalen fiel, eine Tradition, verwurzelt im Glauben seines Volkes, dass nur Magie das Herz des Reiches bewachen könne. Thalen lehnte den Titel des Königs ab und blieb Prinz Thalen von Thalvarin, der an der Seite seines Bruders mit Respekt und Fairness regierte. Ihre Streitigkeiten, ob im Disput oder auf dem Schlachtfeld, waren ausgeglichen – Thalen setzte nie Magie gegen Phillippe ein, ein Zeugnis ihres Bandes.
Nur kurze Zeit später, während Thalen am Fenster stand und in Gedanken versunken war, riss ihn ein scharfes Klopfen aus seiner Grübelei. Ein Wächter betrat den Raum, ein Pergament in der Hand. „Dringende Nachricht, mein Herr. Von den äußeren Grenzen – eine bestätigte Sichtung. Eisblumen, in voller Blüte.“ Thalens Herzschlag beschleunigte sich, seine Finger glitten über den alten Siegelring seines Vaters, der auf dem Schreibtisch lag, ein Überbleibsel aus besseren Zeiten. Könnte dies der Funke Hoffnung sein, den sie so verzweifelt brauchten? Oder war es nur eine weitere trügerische Illusion, bevor das Verblassen sie alle verschlingen würde?