Kapitel 3 — Kapitel 3: Der Buchladen „Regentag“
Elira
Trotz der eindringlichen Warnung von Tante Agatha, die ihr erst vor wenigen Tagen im Kopf widerhallte – „Halte dich von diesem Buchladen fern, Elira, das ist kein Ort für ein Mädchen wie dich“ – erwachte Elira mit einer unbändigen Entschlossenheit, die Geheimnisse des Buchladens „Regentag“ zu ergründen. Ein unaufhörliches Kribbeln quälte sie, seit sie im Café „Die Bohne“ zwei Studenten über seltsame Kunden hatte flüstern hören, die den Laden betraten und nie wieder herauszukommen schienen. Sie konnte es nicht ignorieren; dieses Rätsel fühlte sich an wie der Schlüssel zu etwas Größerem, vielleicht zu einer Geschichte, die ihre angeschlagene Karriere als Schriftstellerin wiederbeleben könnte. Sie stand vom knarrenden Schlafsofa auf, trat an den winzigen Kleiderschrank und seufzte über ihre kalifornische Garderobe, die für den unerbittlichen Regen im Pazifischen Nordwesten völlig ungeeignet war. Sie schlüpfte in ein Kleid über ihre letzte Leggings, schnürte ihre Stiefel, die noch warm vom Heizkörper waren, und band ihr Haar zurück, um die feuchten Spitzen zu bändigen. Mit einem schnellen Tupfer Make-up, bei dem die Sommersprossen unter ihren Augen sichtbar blieben, griff sie ihre Laptoptasche und einen Erdbeer-Müsliriegel, bevor sie die Treppe hinunter in das frühmorgendliche Treiben von „Die Bohne“ eilte.
Der vertraute Duft von Kaffee umhüllte sie, als sie die Treppe hinunterging, ein kleiner Trost, wenn man direkt über dem Café wohnte. „Die Bohne“ summte vor Leben, Studenten pumpten sich vor den Vorlesungen mit Koffein voll, ihr Geplauder verschmolz zu einem dumpfen Brummen über dem Lärm der Espressomaschinen. Elira erspähte Brianna hinter der Theke, die ihr mit einem Lächeln einen dampfenden Latte in die kalten Hände schob.
„Was hast du heute vor, Elira?“, fragte Brianna, während sie die Theke mit einem abgenutzten Lappen abwischte. Ihre blaue Schürze lugte über einem Universitäts-Sweatshirt hervor, und der Dampf der Cappuccino-Maschine drückte ihre schwarze Brille die Nase hinunter.
„Wie immer – draußen schreiben, ein paar Artikel auf gut Glück abschicken“, antwortete Elira und pustete auf ihren Drink, um ihn abzukühlen. Ihre Stimme senkte sich mit einem Hauch von Unbehagen. „Vielleicht schaue ich mal in dem alten Buchladen gegenüber vorbei… habe da ein paar merkwürdige Gerüchte gehört.“
Brianna zog eine Augenbraue hoch. „Ach wirklich? Na ja, ich habe später eine Chemieprüfung, die ich garantiert vergeige, also ist mein Tag auch aufregend.“ Sie schenkte ihr ein schiefes Lächeln, bevor sie sich einem ungeduldigen Kunden zuwandte und Elira schnell zum Abschied winkte.
Elira blickte auf den Regen, der gegen die Fenster von „Die Bohne“ prasselte, und verzog das Gesicht. Ein Sessel am Fenster, mit freiem Blick auf den Buchladen, lockte sie. Sie wusste, dass Tom, der Besitzer, es nicht mochte, wenn sie Kundenplätze besetzte, aber die Wärme war zu verlockend, um sie sofort aufzugeben. Mit einem kleinen, triumphierenden Lächeln ließ sie sich nieder, nippte an ihrem Latte und ließ ihre Gedanken in die Vergangenheit schweifen. Die Uni war einst ihr Zufluchtsort gewesen – das Schreiben für die Campuszeitung, das Meistern von Aufgaben, sogar der stolze Moment, als ihr Enthüllungsbericht über die Wohnheimbedingungen ein Lob vom Dekan einbrachte. Jetzt, arbeitslos und von einem Skandal überschattet, zog sich ihr Brustkorb zusammen. Die Erinnerung an die knappe Kündigung ihres Chefs – „Wir können dich nach dem hier nicht mehr behalten, Elira“ – schmerzte noch immer wie eine offene Wunde. Das Geheimnis des Buchladens zu lösen, könnte jedoch ihr Comeback werden, eine Geschichte, die neu definierte, wer sie war.
Nachdem sie ihren Latte ausgetrunken hatte, wappnete sich Elira gegen die Kälte. Die Geheimnisse des Buchladens waren jede Unannehmlichkeit wert. Sie zog ihre dünne pinke Windjacke enger um sich und trat in den Regenguss hinaus, wich öligen Pfützen aus, während sie die Straße überquerte. Tante Agathas Warnung blitzte kurz in ihrem Kopf auf, bevor ihre Entschlossenheit sie verdrängte.
Die vertraute Glocke läutete, als sie den Buchladen „Regentag“ betrat, ihre Schriftstellerinstinkte geschärft, jedes Detail aufnehmend. Ein schwacher, muffiger Geruch hing in der Luft, passend für ein altes Gebäude in dem regnerischen Rainharbor, wo selbst das jährliche Regenfest der Stadt einem Wolkenbruch nicht entkam. Die Kasse stand auf einem antiken Schreibtisch, flankiert von einem Bibliothekswagen mit gebrauchten Büchern. Tagebücher und Schreibwaren reihten sich auf Regalen neben einer umfangreichen Ratgeber-Abteilung – vielleicht enthielt einer Ratschläge für den Fall, dass das Leben aus den Fugen geriet, dachte Elira bitter. Im Schaufenster waren Bestseller ausgestellt: die Sucht-Memoiren eines TV-Stars, ein klassischer Roman, der durch eine Verfilmung wiederbelebt wurde, und seltsamerweise ein Satz Britannica-Enzyklopädien, als hätte der Käufer nicht bemerkt, dass es das Internet gibt. Hinter dem Schreibtisch fiel ihr ein verblichenes Foto einer strengen Frau in viktorianischer Kleidung ins Auge, das dem Raum eine unausgesprochene Geschichte verlieh.
Der Charme des Ladens umhüllte sie – Holzvertäfelungen, gemütliche Sitzecken und schwache Inschriften, die in die Kanten der Regale geritzt waren, kaum lesbare Flüstern vergangener Besitzer. Er wirkte größer, als er von der Straße aus schien, mit drei Ebenen, die durch kurze Stufen getrennt waren, seine baufällige Fassade eine täuschende Maske. Als sie zur zweiten Ebene hinaufstieg, atmete Elira den Duft von geliebten gebrauchten Büchern ein, ein Trost, den sie sich seit ihrer Ankunft in Rainharbor versagt hatte, ihre Notfall-Kreditkarte unberührt trotz des Schmerzes, ihre Bibliothek zurückgelassen zu haben.
Ihre Finger glitten über den Rücken eines abgenutzten Jane-Austen-Romans, bevor sie sich selbst ermahnte – konzentriere dich auf das Geheimnis. Doch als sie zur dritten Ebene hinaufstieg, überkam sie ein Verlangen. Verschlossene Glaskästen beherbergten eine beeindruckende Sammlung seltener Bücher, Schätze, die ihr den Atem raubten. Als sie hineinspähte, entdeckte sie eine uralte Ausgabe von Dantes Inferno und eine frühe Ausgabe von „Common Sense“, ihr Herz raste vor Ehrfurcht. Diese Bücher fühlten sich wie alte Freunde an, eine Erinnerung daran, wer sie gewesen war, bevor alles auseinanderfiel. Hier konnte nichts Bedrohliches lauern, dachte sie und stellte sich vor, wie sie stundenlang in einem Sessel zwischen den Regalen verloren war.
„Ich sehe, Sie haben meinen Stolz und meine Freude entdeckt“, unterbrach eine warme Stimme von hinten und ließ sie zusammenzucken.
Elira drehte sich mit einem kleinen Quietschen um. Ein älterer Mann in einem anthrazitfarbenen Anzug lehnte an einem Bücherregal, seine blauen Augen funkelten, obwohl ein Hauch von Melancholie sein Lächeln überschattete.
„Sie haben eine unglaubliche Sammlung“, stammelte sie, während sie sich wieder fasste. „Wie haben Sie so viele Erstausgaben zusammengetragen?“
Er lachte leise, ein entrückter Ausdruck huschte über sein Gesicht. „Manche Schätze finden einen, wenn man es am wenigsten erwartet, meine Liebe, wenn man die Geduld dazu hat. Ich bin lange genug dabei, um zu wissen, wo ich suchen muss.“ Sein Blick verweilte auf ihr, als würde er etwas Unsichtbares abwägen, bevor er mit einem Augenzwinkern hinzufügte: „Ein privater Käufer hilft natürlich auch, der weltweit Auktionen durchforstet.“
Elira blinzelte irritiert über seinen geheimnisvollen Tonfall. Er zog einen Schlüsselbund aus seiner Anzugjacke, schloss eine Vitrine auf und nahm behutsam ein Buch heraus. Seine goldenen Manschettenknöpfe funkelten im Licht, als er es ihr reichte. Ihre Finger bebten, als sie es entgegennahm – eine Erstausgabe von „Die Geschichten von Peter Hase“. Ein Keuchen entfuhr ihr, fast hätte sie das Buch fallen lassen, als Erinnerungen an Tante Agathas tröstende Stimme in ihr aufstiegen. Jeden Abend hatte diese ihr daraus vorgelesen, während ihre sanfte Hand Eliras Haar glättete und sie langsam in den Schlaf driftete. Dieses Buch war eine Verbindung zu einer Zeit, in der das Leben sicher und geborgen schien.
„Das ist ein ganz besonderes Stück“, sagte er mit einem Hauch von Stolz in der Stimme. „Ein Geschenk von einem Freund, der mit Beatrix Potter verwandt war, ursprünglich für enge Familienmitglieder gedacht. Schau es dir in Ruhe an. Ich bin vorne, falls du Fragen hast.“ Sein Tonfall veränderte sich leicht, ein nachdenklicher Blick begleitete seine Worte, als er hinzufügte: „Im Keller haben wir übrigens eine große Sammlung – preiswerte Bücher für jedes Budget.“ Er verschloss die Vitrine wieder und zog sich in den vorderen Bereich des Ladens zurück, während sie wie angewurzelt stehen blieb.
Elira ließ sich in einen Sessel sinken und wischte ihre Hände nervös an ihrem Kleid ab, als fühlte sie sich unwürdig, die zerbrechlichen Seiten zu berühren. Sie machte Fotos von dem Buch, um sie an Dr. Irving, ihre ehemalige Literaturprofessorin, zu schicken. Sie wusste, dass diese begeistert sein würde und sich glücklicherweise nicht für Eliras Skandal interessieren würde. Die Zeit verflog – eine halbe Stunde war vergangen, bevor sie bemerkte, dass sie dringend schreiben musste, wenn sie die Miete bezahlen wollte. Das Buch wie einen kostbaren Schatz an sich drückend, suchte sie den Besitzer, um es zurückzugeben. Ein Unbehagen kroch in ihr hoch, als der Laden plötzlich still wurde und keine der wenigen Kunden mehr zu sehen waren, die sie zuvor bemerkt hatte.
„Hallo? Ist jemand da?“, rief sie, doch es kam keine Antwort. Zögernd, einen solchen Schatz unbeaufsichtigt zu lassen, kämpfte sie mit ihrer Ehrfurcht und entschied schließlich, das Buch in ihre Laptoptasche zu stecken, um es sicher zu verwahren. Sie war fest entschlossen, es persönlich zurückzubringen. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, eine düstere Vorahnung, ähnlich dem Moment, als sie mit sieben Jahren ein Auto auf das Haus ihrer Tante zurasen sah, unfähig, den Unfall zu verhindern. Sie schüttelte die Paranoia ab – es war doch nur ein Buchladen – und erinnerte sich an die Erwähnung des Kellers durch den Besitzer. Vielleicht war er dort, und vielleicht konnte sie sich ein günstiges Buch leisten, wenn sie sparsam war.
Als sie ein Schild zum Keller entdeckte, fiel ihr die Merkwürdigkeit eines Schlosses, eines Riegels und einer Kette an der Tür auf, obwohl diese einen Spalt offen stand. Die abgenutzten Holzstufen knarrten bei jedem Schritt, als sie hinabstieg, und der muffige, dumpfe Geruch der Luft hallte von den Wänden wider. Diese waren mit viktorianischen rosa und gelben Blumenmustern über bonbonstreifenartigen Tapeten bedeckt – ein verstörender Kontrast für einen Buchladenkeller. Wo waren die preiswerten Bücher? Ihr Herz schlug schneller, als sie den Treppenabsatz erreichte und ein langer Flur vor ihr lag. Türen säumten den Gang, einige mit Blumen, Muscheln oder obskuren Symbolen verziert, die sie kaum registrierte. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn, die Sommersprossen an ihrem Hals kribbelten, als Tante Agathas Warnung kurz in ihr aufflackerte, doch die Neugier siegte über den Zweifel.
Plötzlich flammte ein grelles Licht auf. Am Ende des Flurs schien eine Tür zu leuchten und zog sie auf unerklärliche Weise an. Jeder Schritt fühlte sich vorherbestimmt an, als würde ein unsichtbarer Faden sie vorwärtsziehen, unaufhaltsam wie eine Flutwelle. Die anderen Türen ignorierend, näherte sie sich dem goldfarbenen Holz. Ihre Handflächen pressten sich dagegen und spürten eine schwache Vibration. Ihr Herz schlug im Takt mit dem Pulsieren, die Grenze zwischen ihr und der Tür verschwamm, ihre Schicksale schienen miteinander verwoben.
Als sie sich vorbeugte und ihre Wange dicht an das Holz drückte, bemerkte sie eine kleine, abgenutzte Schnitzerei – vielleicht ein Stern oder eine Sonne? Ihre Finger zeichneten sie zärtlich nach, ihre Brust hämmerte. Ein tiefer Schmerz durchfuhr sie, eine Sehnsucht, so scharf, dass es wehtat, doch Klarheit folgte: Was auch immer ihr Leben lang gefehlt hatte, wartete jenseits dieser Schwelle. Schicksal, Bestimmung, Hoffnung – die Worte tanzten in ihrem Kopf. Mit einem breiteren Lächeln, als sie es je gekannt hatte, glücklicher, als ihre Erinnerungen es zuließen, drehte ihre zitternde, doch entschlossene Hand den warmen, vertrauten Knauf.
Blendendes Licht und absolute Stille begrüßten sie, dann traf ein Schwall eisiger Wind ihr Gesicht. Ein leises Flüstern zog durch die Leere, als sie vorwärts stolperte und in das Unbekannte hinter dem Türrahmen fiel.
Und wie all die seltsam gekleideten Menschen, die vor ihr in den Regenbuchladen gekommen waren, war Elira verschwunden.