Kapitel 3 — Verbotene Begegnung
Wechsel zwischen Lukas und Aña
Der Wald atmete in der feuchten Dunkelheit der Nacht, sein Rhythmus ein leises, beständiges Rauschen, das von den Tropfen des Regens begleitet wurde, die durch die dichte Baumkrone sickernd auf den moosbedeckten Boden fielen. Der Wind trug einen Hauch von Erde und Kiefernadeln mit sich, ein Duft, der Lukas an eine ferne Erinnerung gemahnte, die er nicht greifen konnte. Doch er ließ sich nicht ablenken. Etwas war da – ein Gefühl im Nacken, ein Prickeln unter der Haut, das ihn in erhöhter Wachsamkeit hielt. Sein Atem war ruhig, kontrolliert, seine Schritte lautlos auf dem feuchten Waldboden, während er die Schatten absuchte, die das Mondlicht durch die Äste warf.
Er wusste, dass er nicht allein war. Seitdem er Johanns Haus verlassen hatte, hatte dieses Gefühl ihn nicht mehr losgelassen. Es war kein direkter Angriff, keine drohende Gefahr, sondern etwas Subtiles. Ein Schatten, der ihm folgte, ein Blick, der ihn durch das Dunkel durchdrang. Als er eine kleine Lichtung erreichte, hielt er inne. Der Ort schien aus der Zeit gefallen, eine Stille lag über der Szenerie, die fast greifbar war. Das Mondlicht fiel durch die Baumkronen und zeichnete silberne Muster auf den Boden, die sich wie Runen aus einer anderen Welt ineinander verschlangen.
„Wenn du dich verstecken willst, solltest du leiser atmen,“ sagte Lukas schließlich. Seine Stimme war leise, ruhig, doch der scharfe Unterton darin ließ keine Zweifel an seiner Ernsthaftigkeit.
„Mutig, mich zu rufen, Wolfsblut.“ Die Stimme hinter ihm war ebenso ruhig, doch sie trug eine Note von Herausforderung. Er drehte sich langsam um und sah sie. Aña trat aus den Schatten der Bäume, ihre Bewegungen geschmeidig wie die einer Jägerin. Ihre grünen Augen leuchteten im schwachen Licht wie verborgene Edelsteine, die ein Geheimnis bewahrten. Sie hielt Abstand, ihre Schultern angespannt, doch ihre Haltung war nicht feindselig.
Lukas’ gelbe Augen fixierten sie, und für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. Die Erinnerung an Geschichten und Warnungen über die Lungrücken-Familie blitzte in seinem Geist auf. „Aña Klausdottir,“ sagte er, wobei er ihren Namen mit einem Hauch von Bitterkeit schmeckte. „Was willst du hier?“
„Vielleicht sollte ich dir dieselbe Frage stellen,“ erwiderte sie mit kühler Präzision. Ihre Stimme war wie ein sorgfältig geschliffenes Messer, das jede Silbe durchtrennte. „Du bist zurückgekehrt, und das Dorf steht schon jetzt auf Messers Schneide. Deine Familie hat genug Schaden angerichtet.“
Er ließ ein kurzes, humorloses Lachen hören und schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht hier, um Schaden anzurichten. Ich suche Antworten. Mehr nicht.“
„Antworten?“ Aña trat näher, ihre Stiefel hinterließen kaum Spuren auf dem feuchten Boden. Ihre Augen musterten ihn, suchten nach Anzeichen von Lügen, nach einer Wahrheit, die er vielleicht nicht preisgab. „Was für Antworten könnten die Wolfsblut noch suchen? Ihr habt doch alle Geheimnisse in Blut und Schatten gehüllt.“
„Du hast keine Ahnung, wovon du sprichst,“ murmelte Lukas, und sein Blick flackerte für einen Moment zur Seite. Doch als sie einen weiteren Schritt auf ihn zu machte, wich er zurück, seine Haltung blieb angespannt. „Und warum folgst du mir überhaupt? Hat dein Vater dich geschickt, um mich auszuspionieren?“
Ein Hauch von Amüsement zog über Añas Gesicht, doch ihr Lächeln war kalt, ohne Wärme. „Mein Vater weiß nicht, dass ich hier bin. Und selbst wenn, dann wäre das nicht sein Grund. Ich folge meinen eigenen Spuren, Lukas.“
Er öffnete den Mund, um zu antworten, doch bevor er ein Wort herausbringen konnte, änderte sich die Luft um sie herum. Es begann mit einem leisen Summen, kaum mehr als ein Flüstern, das sich in ihren Knochen niederließ. Die Temperatur schien zu fallen, und das Mondlicht auf der Lichtung wurde von einem feinen, unnatürlichen Schimmer überzogen. Lukas erstarrte, die Härchen an seinem Nacken stellten sich auf. Sein Instinkt sagte ihm, dass etwas gewaltig falsch war.
Er griff nach seinem Handy, das in seiner Tasche zu flackern begonnen hatte, das Display eine surreale Mischung aus Störbildern und undefinierbaren Formen. Ebenso zog Aña ihr Gerät hervor, ihre grünen Augen wurden schmal, als sie das Flimmern darauf betrachtete. Inmitten der digitalen Verzerrungen schien ein Muster zu entstehen – Linien, die sich zu verschlungenen Runen verbanden, und für den Bruchteil einer Sekunde formte sich das Bild eines Wolfsgesichts. Es schien aus der digitalen Störung herauszubrechen, ein Echo von etwas, das sich jenseits des Verstehens bewegte, ehe es wieder verschwand.
„Hast du das gesehen?“ fragte Aña, ihre Stimme zögernd, doch in ihrem Ton lag auch etwas Dringendes.
„Ja,“ antwortete Lukas knapp, seine Augen hafteten noch immer an dem nun erloschenen Bildschirm. „Das ist kein Zufall.“ Sein Herz schlug schneller, doch sein Verstand arbeitete fieberhaft, versuchte, einen Sinn in das Gesehene zu bringen. „Was bedeutet das?“
„Ich weiß es nicht,“ gab Aña zu, doch in ihrer Stimme lag ein Hauch von Faszination. Ihre Augen suchten die seinen, als ob sie eine Erklärung in ihnen finden könnte. Für einen kurzen Moment schien die Feindschaft zwischen ihnen zu verblassen, verdrängt von der gemeinsamen Erkenntnis, dass sie beide in etwas Größeres verstrickt waren. Der Fluch – was auch immer er tatsächlich war – hatte begonnen, sich zu bewegen.
Lukas sah sie an, seine Gedanken wirbelten. Diese digitale Anomalie war mehr als eine technische Störung, das spürte er. Es war, als ob die Vergangenheit selbst sich durch die Technologie manifestierte, ein unheimliches Echo von etwas Altem, das versucht hatte, sich bemerkbar zu machen. „Zusammenarbeiten?“ fragte er schließlich, seine Stimme voller Skepsis. „Dein Vater würde mich wahrscheinlich töten, wenn er das wüsste.“
„Und meiner würde mich enterben,“ erwiderte sie trocken. „Aber wenn wir beide diese Anomalie gesehen haben, dann bedeutet das, dass unsere Familien mehr damit zu tun haben, als wir bisher dachten.“ Sie hielt einen Moment inne, dann fügte sie leise hinzu: „Du suchst nach Antworten, Lukas? Vielleicht finden wir sie zusammen.“
Er zögerte und suchte in ihrem Gesicht nach einem Zeichen von Täuschung. Doch da war nur Entschlossenheit, eine zähe, fast trotzig wirkende Überzeugung. Schließlich nickte er knapp. „Vorübergehend. Aber keine Spielchen, Klausdottir.“
„Das Gleiche gilt für dich, Wolfsblut.“ Ihre Augen blieben kühl, doch in ihrer Haltung schien ein winziger Moment des Nachgebens zu liegen, als ob sie diese Allianz ebenfalls mit Vorsicht betrachtete.
Die Lichtung schien plötzlich enger, bedrückender zu werden, als die Stille zurückkehrte, nur durch das gelegentliche Tropfen des Regens unterbrochen. Lukas spürte, wie sich die Anspannung in seinen Schultern löste, wenn auch nur ein wenig. Doch sein Instinkt sagte ihm, dass die wahre Gefahr noch nicht vorbei war.
„Folge mir,“ sagte Aña schließlich, ihre Stimme hatte an Schärfe und Sicherheit gewonnen. „Ich habe einen Ort, an dem wir anfangen können.“
„Wo?“ fragte Lukas, ohne sich zu bewegen.
„Mein Archiv,“ antwortete sie. „Wenn jemand die Verbindung zwischen diesen Anomalien und dem Fluch entschlüsseln kann, dann dort. Aber wir dürfen keine Zeit verlieren.“
Er zögerte, dann nickte er. „Führ du den Weg.“
Die beiden setzten sich langsam in Bewegung, ihre Schritte leise auf dem vom Regen getränkten Boden. Die Lichtung verblasste hinter ihnen, und die Schatten des Waldes schlossen sich um sie wie ein stilles Versprechen von Geheimnissen, die darauf warteten, gelüftet zu werden. Innerlich wusste Lukas, dass er sich auf gefährliches Terrain begab, doch er hatte keine Wahl. Die Antworten, die er suchte, lagen irgendwo zwischen den Zahnrädern der Vergangenheit und den Schatten der Gegenwart – und Aña Klausdottir schien der Schlüssel zu sein, ob er es wollte oder nicht.