Kapitel 2 — Gefangen im goldenen Käfig
Liesel Wagner
Die schweren, goldverzierten Türen der Villa fielen mit einem dumpfen Ton ins Schloss hinter ihr. Liesel stand für einen Moment regungslos im Foyer, die Hände nervös ineinander verschlungen. Die undurchdringliche Stille des Hauses umfing sie, begleitet nur vom leisen Knistern des Kamins im Salon und dem fernen Ticken der Standuhr im Flur. Es war keine Stille, die Frieden brachte, sondern eine, die wie ein kaltes Gewicht auf ihr lag, als würde sie durch die Wände sickern und jede Ecke der Villa füllen.
Ihr Blick wanderte über die makellosen Marmorböden, die im Licht der kunstvoll geschnitzten Kronleuchter glänzten, und die schimmernden Wände, an denen goldgerahmte Familienporträts hingen. Die Gesichter darauf schienen sie zu beobachten, ihre stummen Blicke fordernd und unerbittlich. Es war, als verlangten diese längst verstorbenen Mitglieder von Friedrichs Familie, dass sie ihre Rolle akzeptierte – eine Rolle, die ihr wie eine Last erschien, die sie nicht tragen wollte.
Die Feierlichkeiten waren vorbei. Die Gäste hatten sich verabschiedet, ihre Stimmen und das metallische Klirren von Champagnergläsern waren längst verstummt. Friedrich hatte sich in sein Büro zurückgezogen, mit einem knappen Nicken, das kaum mehr war als eine höfliche Formalität. Und Liesel… Liesel war allein.
Langsam bewegte sie sich durch die langen Flure, die mit ihrem Prunk und ihrer Eleganz zu erstarren schienen. Ihre Fingerspitzen glitten über die glatte Oberfläche eines Mahagoni-Tisches, der den Korridor säumte. Alles an diesem Ort war makellos – tadellos arrangiert wie für eine Ausstellung, doch ohne jede Spur von Wärme.
Schließlich erreichte sie den Salon. Die hohen Fenster, hinter deren schweren Vorhängen sich der Garten verbarg, schienen sie anzuziehen. Sie zog einen Vorhang beiseite, ihre Bewegungen vorsichtig und zögerlich, und ein schmaler Lichtstrahl fiel auf den glänzenden Parkettboden. Der Garten draußen lag in dunklen Schatten, die hohen Hecken und akribisch gepflegten Beete wirkten wie eine unüberwindbare Mauer.
„Dieser Ort ist ein Symbol, Liesel“, hatte ihre Mutter einst gesagt, als sie gemeinsam durch diesen Garten gegangen waren. Es war einer der wenigen Momente gewesen, in denen sie nicht nur befehlsartig gesprochen hatte. „Ein Symbol für deine Verpflichtungen, für die Erwartungen, die auf dir lasten. Du wirst hier lernen müssen, deine Rolle zu erfüllen.“
Damals hatte Liesel genickt, wie sie es immer tat, wenn ihre Mutter sprach. Doch jetzt, da sie durch die Fensterscheibe blickte, fühlte sie nur einen tiefen, bitteren Widerstand. Dieses Symbol, von dem ihre Mutter gesprochen hatte, war für sie nichts weiter als ein Käfig – ein goldener Käfig, dessen Stäbe aus gesellschaftlichem Druck und starrer Pflichterfüllung bestanden.
Mit einem leisen Seufzen wandte sie sich vom Fenster ab. Der Salon wirkte weiterhin kalt und bedrückend. Der schwache Schein des Kamins schaffte es nicht, die Dunkelheit, die diesen Raum durchdrang, zu vertreiben. Auf einer Anrichte stand eine Karaffe mit Wasser, daneben ein einzelnes Glas. Sie füllte es und nippte daran, doch selbst das Wasser schien in diesem Haus seinen Geschmack verloren zu haben.
Ihre Schritte führten sie weiter durch die Villa, tiefer in Räume, die sie bisher kaum erkundet hatte. Es war nicht ihr Zuhause. Es war Friedrichs Reich. Jeder Raum schien seine Präsenz zu tragen. Die Bibliothek, mit ihren hohen, dunklen Bücherregalen, strahlte eine kühle Strenge aus. Das Arbeitszimmer, mit seinen Jagdtrophäen an den Wänden, zeugte von einem Mann, der entschlossen war, alles zu besitzen, was er begehrte.
Ein leises Knarren unterbrach ihre Gedanken, als sie einen schmaleren Flur erreichte. Die Holzvertäfelungen wirkten alt, und der Teppich war an den Rändern leicht abgetreten. Hier schien die makellose Perfektion der Villa einen feinen Riss zu zeigen. Ein schwaches Geräusch aus der Tiefe des Flures ließ sie innehalten – vielleicht nur der Wind, der durch eine undichte Stelle zog, doch es reichte, um ihre Neugier zu wecken.
Ihre Schritte wurden langsamer, als sie eine schmale Tür entdeckte, die halb verborgen in der Wand eingelassen war. Sie zögerte, dann legte sie ihre Hand auf die kalte Messingklinke und drückte sie hinunter. Die Tür öffnete sich, und sie trat ein.
Der Raum dahinter war ein Keller, kalt und verlassen, mit bloßem Steinboden und niedriger Decke. Der Geruch von Feuchtigkeit und Staub stieg ihr in die Nase. Eine einzelne Glühbirne baumelte von der Decke und warf ein flackerndes Licht auf die Wände.
An einer Wand stand ein massiver Schrank aus dunklem Holz, dessen Türen nur halb geschlossen waren. Liesel näherte sich vorsichtig und öffnete eine der Türen vollständig. Dahinter lagen Akten, säuberlich gestapelt, und einige eingestaubte Kisten.
Ihre Finger zitterten, als sie über die Akten strichen. Auf einigen prangte das Siegel des Regimes. Die Überschriften waren beunruhigend: „Vertrauliche Mitteilungen“, „Projektunterlagen“, „Berichte“. Sie wagte nicht, die Dokumente zu öffnen. Ihr Atem beschleunigte sich, während ihre Gedanken rasten. Was verbargen diese Akten? War dies ein Teil von Friedrichs Welt, den er vor ihr geheim hielt?
In einer der Kisten entdeckte sie ein Foto, das sie innehalten ließ. Es zeigte ein lächelndes Paar vor einer anderen Villa. Die Frau trug ein schlichtes Kleid, und der Mann hatte einen warmen Ausdruck, der so gar nicht zu Friedrich passte. Liesel betrachtete das Bild lange und spürte, wie sich ein seltsames Unbehagen in ihr ausbreitete. Wer waren diese Menschen? Warum waren ihre Erinnerungen hier unten versteckt?
Eine plötzliche Kälte durchfuhr sie, als sie die Kiste schloss. Es war nicht nur die Feuchtigkeit des Kellers, die sie frösteln ließ. Es war das Gefühl, dass sie etwas entdeckt hatte, das sie vielleicht besser hätte ignorieren sollen.
Mit leisen, bedachten Bewegungen verließ sie den Keller und schloss die Tür hinter sich. Doch als sie wieder in den helleren Teil der Villa trat, fühlte sie sich nicht erleichtert. Ihre Finger zitterten weiterhin, als sie die glatte Treppe hinaufstieg und ihr Schlafzimmer erreichte.
Sie schloss die Tür hinter sich und lehnte sich einen Moment dagegen, schloss die Augen und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Doch die Ruhe, die sie suchte, kam nicht. Bilder von den Akten und dem Foto drängten sich in ihren Kopf, begleitet von einer leisen, aber beharrlichen Frage: Wer war Friedrich wirklich?
Liesel ließ sich auf den Stuhl vor ihrem Frisiertisch sinken. Ihre Hände bewegten sich mechanisch, während sie ihr Haar bürstete, doch ihr Geist war weit entfernt. Es war, als hätte sie einen Blick hinter den Vorhang geworfen, der die Fassade dieser Welt zusammenhielt. Und was sie dort gesehen hatte, war nicht nur düster – es war beängstigend.
Die Nacht schien endlos, und die Schatten in ihrem Zimmer wirkten wie stille Zeugen ihrer Unruhe. Der goldene Käfig, in dem sie lebte, war mehr als die Wände dieser Villa. Es war eine Welt aus Geheimnissen und Täuschung, und sie wusste, dass sie die Konsequenzen dessen, was sie entdeckt hatte, noch nicht abschätzen konnte.