Kapitel 3 — Der Pazifist im Krieg
Johann Keller
Der beißende Geruch von Desinfektionsmittel lag schwer in der Luft, begleitet von einem dumpfen Rauschen, das durch die langen Flure des Berliner Krankenhauses hallte. Johann Keller stand in einem der sterilen Räume, die Wände kahl, die Fenster matt vom Staub der Straße. Vor ihm lag ein verwundeter Soldat, der mit schmerzverzerrtem Gesicht auf der schlichten Bahre lag. Die Uniform des jungen Mannes war an der Schulter aufgeschnitten, ein hastig angelegter Verband durchtränkt von dunklem Blut.
„Halten Sie still“, murmelte Johann, seine Stimme ruhig, aber erschöpft. Sein Blick suchte den des Patienten, der blass und voller Angst zu ihm aufblickte. „Es wird nur kurz wehtun.“
Er griff nach der Pinzette, die in der schummrigen Beleuchtung des Raumes aufblitzte, und arbeitete mit präzisen Bewegungen daran, das Metallfragment aus dem Fleisch zu entfernen. Der Soldat biss die Zähne zusammen und wandte den Blick zur Decke. Johann spürte die Anspannung, die durch den Körper des Patienten fuhr, und konnte nicht anders, als sich zu fragen, wie oft er noch dieselbe Szene durchleben würde. Verwundete Männer, zerbrochene Körper, gebrochene Geister – sie kamen in einer endlosen Flut, und jeder von ihnen war ein Zeugnis des Krieges, der Johann so unerträglich erschien.
„Geschafft“, sagte er leise, legte die Pinzette zur Seite und begann, den frischen Verband anzulegen. Der Soldat nickte schwach, mehr aus Dankbarkeit dafür, dass es vorbei war, als aus echtem Trost. Johann wischte sich die Hände an einem Tuch ab und wandte sich ab, seine Schultern schwer von der Last, die auf ihm lag.
Beim Verlassen des Raumes begegnete Johann einem anderen Arzt, Dr. Weiss, der sich mit verschränkten Armen an eine der kahlen Wände lehnte. Seine Uniform war zerknittert, und in seinem Blick lag eine Müdigkeit, die Johann allzu gut kannte.
„Noch ein Held, der fürs Vaterland blutet“, sagte Weiss trocken, während er den Patienten durch die geöffnete Tür betrachtete. „Und trotzdem werden sie nicht müde, den Krieg zu glorifizieren.“
Johann hielt inne. „Wie kann man etwas glorifizieren, das so viel Zerstörung und Leid bringt?“
Weiss musterte ihn, ein Hauch von Skepsis in seinem Blick. „Nicht jeder trägt deinen Idealismus, Keller. Manche sehen in diesem Wahnsinn einen Zweck.“
Johann spürte, wie seine Kehle trocken wurde. „Einen Zweck? Welchen Zweck könnte das alles haben?“
Weiss zuckte mit den Schultern, bevor er sich abwandte. „Fragen Sie das die, die noch immer an den Sieg glauben.“
Die leisen Worte hallten in Johann nach, als er weiterging. Jeder Schritt hallte auf dem kalten Steinboden wider, begleitet vom entfernten Dröhnen, das von der zerstörten Stadt draußen hereindrang. Berlin war ein Schatten seiner selbst, und das Krankenhaus ein verzweifelter Versuch, Ordnung in das Chaos zu bringen.
Das Büro von Oberarzt Brandt war ein Raum voller Autorität. Die schweren Holzmöbel und die dunkelgrünen Vorhänge verliehen ihm eine gewisse Gravität, die durch die Anwesenheit des Mannes hinter dem Schreibtisch noch verstärkt wurde. Brandt war ein großer, hagerer Mann mit scharf geschnittenen Gesichtszügen und einem Blick, der jede Regung erfasste.
„Setzen Sie sich, Keller“, sagte er knapp und deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.
Johann nahm Platz, seine Hände ruhten auf den Knien, während er die Augen des Oberarztes suchte. Brandt lehnte sich zurück, verschränkte die Hände vor sich und betrachtete Johann eine Weile schweigend, bevor er sprach.
„Sie wissen, warum ich Sie hergebeten habe.“
Johann schüttelte leicht den Kopf. „Nein, Herr Oberarzt.“
Brandt zog ein Blatt Papier aus einem Stapel auf seinem Schreibtisch und legte es vor sich ab. „Ihr Einberufungsbescheid ist eingetroffen. Sie sollen sich in zwei Wochen melden.“
Die Worte trafen Johann wie ein Schlag. Er hatte gewusst, dass dieser Moment kommen würde – der Krieg verschlang alles und jeden, und selbst Ärzte waren keine Ausnahme. Doch die Realität dessen, was Brandt gerade gesagt hatte, ließ sein Herz schwer werden.
„Ich bin Arzt“, sagte Johann schließlich, bemüht, die Ruhe in seiner Stimme zu bewahren. „Meine Pflicht ist es, Menschen zu heilen, nicht sie zu verletzen.“
Brandt ließ sich nicht beirren. „Sie sind ein Arzt, Keller, aber Sie sind auch ein Bürger des Reiches. Und in Zeiten wie diesen bedeutet das, dass wir alle Opfer bringen müssen. Gerade Sie sollten das verstehen.“
Johann spürte, wie sich der Widerstand in ihm regte, doch er wusste, dass es keinen Sinn hatte, mit Brandt zu argumentieren. Der Mann vor ihm war ein Teil des Systems, das diesen Wahnsinn unterstützte, und Johann konnte nichts tun, um das zu ändern.
„Ich habe keine Wahl, nicht wahr?“ fragte er leise.
Brandt lehnte sich vor, seine Stimme wurde fast sanft, doch in seinen Worten lag ein unerbittlicher Unterton. „Es gibt immer eine Wahl. Aber die richtige Wahl verlangt Opfer. Sie sind ein kluger Mann, Keller. Sie werden das verstehen.“
Johann stand auf, seine Bewegungen mechanisch, während er den Raum verließ. Seine Gedanken überschlugen sich, während er den Flur hinunterging. Die Welt um ihn herum schien plötzlich noch düsterer, noch hoffnungsloser.
Später, als er allein in seinem kleinen Zimmer saß, griff Johann nach dem Brief, der auf seinem Tisch lag. Der Einberufungsbescheid – eine knappe, formelle Aufforderung, die keinen Raum für Widerspruch ließ.
Er legte den Brief beiseite und stützte den Kopf in die Hände. Bilder drängten sich in seinen Geist, Bilder von blutenden Soldaten, zerbrochenen Leibern und leeren Augen. Die Worte seines Vaters hallten in ihm nach – leise, aber eindringlich: „Johann, die größte Stärke eines Menschen liegt nicht in den Fäusten, sondern in seiner Fähigkeit, anderen zu helfen.“
Johann dachte an die Sommerabende seiner Kindheit, an die Wärme der Umarmungen seiner Mutter, an die Geschichten seines Vaters über Mut und Mitgefühl. Diese Erinnerungen hatten ihn geprägt, hatten aus ihm den Mann gemacht, der er war. Und doch schien diese Welt keinen Platz mehr für solche Ideale zu haben.
Er wusste, dass er gehen würde. Nicht aus Loyalität zum Reich, sondern aus Liebe zu seiner Familie. Wenn er sich weigerte, würden die Konsequenzen nicht nur ihn treffen, sondern auch diejenigen, die ihm am meisten bedeuteten. Seine Eltern, seine Schwester – sie alle waren in Gefahr, wenn er nicht gehorchte.
Als der Morgen graute, saß Johann immer noch an seinem Tisch, der Brief vor ihm wie ein stummer Vorwurf. Er hatte eine Entscheidung getroffen, doch es fühlte sich nicht wie eine Wahl an. Es war eine Kapitulation, ein Zugeständnis an eine Welt, die keinen Platz für Idealismus ließ.
Er stand auf, zog die Vorhänge auf und blickte hinaus auf die graue, zerstörte Stadt. Der Himmel war schwer von Wolken, und ein kalter Wind wehte durch die Straßen. Johann wusste, dass seine Reise begonnen hatte, auch wenn er noch keine Vorstellung davon hatte, wohin sie ihn führen würde.
Das Krankenhaus, die Patienten, die er zurücklassen würde – all das war ein Teil seines Lebens, das er aufgeben musste. Doch tief in seinem Inneren blieb ein Funke von Hoffnung, so klein und zerbrechlich er auch war. Vielleicht, dachte er, würde es eines Tages eine Welt geben, in der er wieder Arzt sein konnte. Ein Arzt, der heilt, anstatt Wunden zu verbinden, die niemals hätten entstehen dürfen.
Als er den Raum verließ, um seinen Dienst anzutreten, fühlte Johann sich wie ein Mann, der auf eine Schlacht zulief, die er nicht gewinnen konnte. Doch er lief trotzdem, denn das war es, was von ihm erwartet wurde. Und in einer Welt, die vom Chaos verschlungen wurde, war das vielleicht das Einzige, was er tun konnte.