Kapitel 2 — Unter der glitzernden Oberfläche
Niklas Bergmann
Das Eis unter ihm glitzerte im grellen Licht der Scheinwerfer wie ein zerbrechlicher Spiegel, der jede Bewegung einfing und verstärkte. Niklas „Nick“ Bergmann stand reglos inmitten der „Arctic Arena“, die Hände fest um seinen Hockeyschläger geschlossen. Hinter ihm positionierte sich sein Team, ein lebendiger Wall aus Energie und Fokus. Der tosende Lärm der Fans schwoll an, rollte wie donnernde Wellen von den Tribünen herab. Es hätte ihn antreiben sollen, wie es immer getan hatte. Doch heute fühlte sich der Applaus wie ein ferner Nachhall an, dumpf und taub, als wäre er in einer Blase, die ihn vom Rest der Welt trennte.
Sein Blick glitt über die Eisfläche, suchte Halt, fand nichts. Der dumpfe, stechende Schmerz in seinem Knie war allgegenwärtig, ein unnachgiebiger Puls, der ihn quälte. Es war, als würde sein eigener Körper gegen ihn arbeiten, während die Welt um ihn herum Stärke und Perfektion verlangte. Der Druck in seiner Brust zog sich enger zusammen, drängte ihn, noch härter zu kämpfen, noch mehr zu geben. Ruhe war keine Option. Nicht heute. Nicht mit diesen Menschen, die seinen Namen in die Arena schrien, als wäre er ein unbesiegbarer Held. Nicht mit den Sponsoren, die auf ihn setzten. Nicht mit seinem Team, das auf seinen Rücken vertraute.
„Nick! Alles okay?“ Bens Stimme schnitt durch den Lärm, leise, aber klar genug, um ihn aus seiner Gedankenspirale zu reißen. Sein bester Freund und Teamkollege, der immer diese Mischung aus Gelassenheit und wacher Aufmerksamkeit ausstrahlte, stand dicht neben ihm.
Nick nickte knapp, ohne den Blick vom Eis zu nehmen. „Ich bin bereit.“
„Sicher?“ Ben trat ein wenig näher, seine Stimme senkte sich zu einem vorsichtigen Flüstern. „Du wirkst... angespannt.“
„Ich bin immer angespannt“, erwiderte Nick scharf, der Sarkasmus in seiner Stimme schärfer, als er beabsichtigt hatte. Er konnte das Mitleid in Bens Augen nicht ertragen, konnte es nicht zulassen, dass auch nur der Hauch von Schwäche bemerkt wurde.
Ben hielt inne, sein prüfender Blick bohrte sich in Nicks Profil. Schließlich klopfte er ihm einmal auf die Schulter, ein stummes Zeichen dafür, dass er das Gespräch fallen ließ – vorerst. Mit einem letzten besorgten Blick trat Ben zurück zu seiner Position.
Die Sirene ertönte, durchbrach die Spannung, und das Spiel begann.
Nick war auf dem Eis wie ein Uhrwerk, jeder Schritt präzise, jeder Zug kontrolliert. Doch in seinem Inneren tobte ein Kampf. Der Schmerz in seinem Knie war wie ein schwelendes Feuer, das mit jedem Sprung, jedem Schlag aufloderte. Der Rhythmus des Spiels umhüllte ihn, zog ihn hinein, doch es war mehr Überlebensinstinkt als Leichtigkeit. Er zwang sich, jeden Gedanken an die Schmerzen und die drohende Gefahr auszublenden.
Das Publikum tobte, als er den Puck ergriff und sich durch die gegnerische Abwehr kämpfte. Farbige Trikots flogen um ihn herum, rot und weiß wie verschwommene Schatten, während die kalte Luft des Eises ihm ins Gesicht schlug. Doch trotz der Geschwindigkeit, trotz der scheinbaren Mühelosigkeit seiner Bewegungen wusste Nick, dass er am Limit war. Sein Atem wurde schneller, Schweiß tropfte ihm über die Stirn, und sein Knie fühlte sich an, als würde es bei jedem weiteren Schritt auseinanderbrechen.
Ein harter Check von der Seite ließ ihn taumeln, und für einen Moment glaubte er, dass er zusammenbrechen würde. Doch er blieb auf den Kufen, biss die Zähne zusammen und fand sein Gleichgewicht wieder. Irgendwo in der Peripherie seines Sichtfelds bemerkte er Bens besorgten Blick, doch er vergrub diese Wahrnehmung tief in sich. Er konnte es sich nicht leisten, innezuhalten. Nicht vor Ben, nicht vor seinem Team, und schon gar nicht vor den Tausenden, die ihn wie einen gottgleichen Kämpfer auf dem Eis verehrten.
Seine Gedanken kehrten immer wieder zu den Worten seines Managers zurück, die wie ein Mantra in seinem Kopf wiederhallten. „Du bist das Gesicht dieses Teams, Nick. Die Sponsoren setzen auf dich. Wenn du fällst, fällt alles.“ Die Realität dieser Worte klebte an ihm wie ein Schatten, lastete wie eine unsichtbare Kette auf seinen Schultern. Es gab keinen Raum für Fehler. Kein Zurück. Kein Aufgeben.
Das Spiel endete mit einem Sieg für sein Team, doch für Nick fühlte es sich hohl an. Die Jubelrufe, die Schulterklopfer – sie prallten an ihm ab, wie Regen an Glas. Als sie das Eis verließen, spürte er, wie sein Knie kurz nachgab, doch er fing sich, bevor jemand es bemerkte.
Im Umkleideraum war die Stimmung ausgelassen. Spieler lachten, schrieen und klatschten sich gegenseitig auf die Schultern. Trainer stimmten Lobgesänge an, und der Geruch von verschwitzter Ausrüstung und Desinfektionsmittel hing in der Luft. Doch Nick zog sich in eine stille Ecke zurück, ließ sich schwer auf eine Bank fallen. Der Schmerz in seinem Knie explodierte, jetzt, da das Adrenalin nachließ, und er konnte kaum noch an etwas anderes denken.
Ben setzte sich schweigend neben ihn. Die Freude des Sieges war in seinen braunen Augen gedämpft, ersetzt durch eine leise, aber unverkennbare Sorge. „Nick, wir müssen reden.“
„Nicht jetzt.“
„Doch, jetzt.“ Bens Stimme war ruhig, aber eindringlich. „Ich sehe, wie du leidest. Das ist nicht normal. Du kannst nicht so weitermachen.“
Nick ballte die Fäuste, seine Augen fixierten den Boden, als könnte er die Worte mit bloßer Willenskraft ausblenden. „Und was soll ich tun? Aufhören? Alles hinschmeißen?“ Ein bitteres Lächeln spielte um seine Lippen, doch es erreichte seine Augen nicht.
„Nein,“ antwortete Ben ruhig, „aber du musst ehrlich zu dir selbst sein. Das hier wird dich kaputtmachen, wenn du weitermachst.“
Nick schüttelte nur den Kopf, ein Schnauben entkam ihm. „Ich komme zurecht. Es ist nichts, womit ich nicht fertigwerde.“
Ben beobachtete ihn, seine Stirn leicht gerunzelt, doch er sagte nichts mehr. Für einen Moment hing Stille zwischen ihnen, schwer und unausgesprochen. Schließlich seufzte Ben, stand auf und ließ Nick allein zurück.
Später, als das Stadion leer und still war, blieb Nick auf der Bank in der Umkleide zurück. Der Schmerz in seinem Knie hatte sich zu einem stechenden, pulsierenden Rhythmus verdichtet, der ihn fast in die Knie zwang. Er kniete sich auf die Bank, zog das Tape von seinen Handgelenken und spürte, wie seine Brust sich zusammenzog. Der Raum, der so oft mit Leben gefüllt war, wirkte nun seltsam kalt und unwirklich.
Er schloss die Augen, atmete tief ein und ließ seine Gedanken schweifen. Die Worte, die Ben gesagt hatte, mischten sich mit denen seines Managers, mit den Rufen der Fans, mit der Stimme seiner eigenen Zweifel. Die Angst, aufzuhören, war größer als jede Verletzung. Größer als jeder Schmerz.
Die Dunkelheit des leeren Stadions warf lange Schatten über ihn, und in diesem Moment fühlte er sich kleiner, verletzlicher, als er es je zugegeben hätte. Die Welt erwartete, dass er stark war. Aber was, wenn er es nicht mehr war?
Mit einem stummen Fluch zwang er sich, die Selbstzweifel abzuschütteln. Er griff nach seiner Tasche, schulterte sie und verließ die Umkleide. Die Kälte der Nacht schlug ihm ins Gesicht, als er die Arena verließ. Der Schnee fiel in dichten, stillen Flocken, deckte die Welt mit einer unheimlichen Ruhe zu. Die Straßen waren leer, die Lichter der Stadt in der Ferne verschwommen.
Er zog die Kapuze seines Sweatshirts über den Kopf und ging langsam zu seinem Auto. Sein Atem formte kleine Wolken in der eisigen Luft. Auf dem Heimweg spielten sich die Ereignisse des Abends immer wieder in seinem Kopf ab – die Schmerzen, die Stimmen, die unausgesprochenen Konflikte. Es war ein Chaos, das er nicht sortieren konnte.
Und irgendwo tief in seinem Inneren erhob sich eine leise, nagende Frage: Wie lange würde er das noch durchhalten können?